Es ist so still
Im indonesischen Aceh ist mehr kaputt als nur die Häuser. Und es braucht mehr als Baumaterial, damit das Leben wieder beginnt.
Eine profil-Reportage nach dem Tsunami aus Heft 23/2005
Er hat eine Schaufel, eine Flasche selbst gebrannten Schnaps und einen schönen Blick aufs Meer. Die Schaufel braucht er, um im Schutt zu graben. Die Flasche Schnaps braucht er, um den Blick aufs Meer zu ertragen. Anwar Fuadi ist 52 Jahre alt, und seit das Meer kam, ist von seinem Leben nicht mehr viel da.
Anwar war Tischler. Als Meulaboh noch ein ganz normales Fischerstädtchen mit 53.000 Einwohnern war, spielte er amerikanische Country-Songs auf seiner Gitarre. Seit dem 26. Dezember ist ein Drittel der Bewohner Meulabohs tot, zwei von Anwars Kindern ebenfalls. Er hat zwei Tage lang gesucht, in Trümmern und Tümpeln. Einzig seine 18-jährige Tochter hat er wiedergefunden, im Schulgebäude, wo jene Verletzten hingelegt wurden, von denen keiner wusste, wohin sie gehörten. Sie hatte sechs Stunden lang bewusstlos im Wasser gelegen.
Auch den Ort, an dem sein Haus stand, hat Anwar wiedergefunden – man kann ihn am Fundament identifizieren. Dass es zwei kleine Zimmer hatte, erkennt man am Grundriss. Er hat jetzt ein Zelt gegen die Sonne draufgestellt, eine Schubkarre und begonnen, ein paar angeschwemmte Holzplanken zusammenzunageln.
Vielleicht liegt es am Schnaps, dass Anwar sich vorstellen kann, dass er hier bald eine Imbissbude eröffnen wird.
Denn rundherum, wo einmal ein ganzer Stadtteil war, ist – nichts. Der alte Friedhof ist da, und einige Badezimmerböden, beide aus betonierten Kacheln, die halten einiges aus. Gleich daneben eine überwucherte grüne Anhöhe, das Massengrab für die Toten vom 26. Dezember, als man keine Zeit mehr zum Betonieren und Kacheln hatte. Den Rest haben Bagger zusammengeschoben und planiert, zu einer langsam verrottenden braunen Masse mit bunten Einsprengseln aus Kinderschuhen, Plastiksäcken, Hochzeitsfotos. Das Meer rauscht, der Wind weht, auf dem Wasser kein einziges Fischerboot, und außer Anwar stört niemand die Stille.
Fünf Monate sind seit der Katastrophe vergangen. Millionen sind für die Flutopfer gespendet worden, hunderte Hilfsorganisationen haben hier Büros aufgemacht, doch die Westküste Sumatras hat noch nicht zurück ins Leben gefunden. Die Bewohner von 17.000 zerstörten Häusern in Meulaboh, von 33.000 zerstörten Häusern in der Provinzhauptstadt Banda Aceh und all der Dörfer dazwischen leben in Zeltlagern und militärisch anmutenden Baracken. Dort bekommen sie vierzig Deka Reis am Tag, vier Dosen Sardinen im Monat und warten. „Fünf Jahre vielleicht? Zehn?“, lacht der Englischlehrer Andy Mansur, den sie im Barackencamp Loingraia zum Chef von 2200 Obdachlosen ernannt haben. Die Indonesier, hat jemand erzählt, lachen, wenn sie ratlos sind.
Denn mit der Zeit ist es so eine Sache. Im Angesicht der Katastrophe gab es einen entscheidenden Augenblick. Die Sekunde, in der man entweder lossprintete oder innehielt, um noch das Kind zu holen. Die Sekunde, in der man eine Hand losließ oder festklammerte. Dieser Moment, in dem man auf Leben oder Tod Einfluss nehmen konnte, ist vorbei, und lässt sich, auch durch noch so viel Eifer, nicht mehr zurückholen. Es sind auffallend viele allein stehende Männer übrig, die nicht zu Hause waren, als es Frau und Kinder wegschwemmte. Sie waren nicht da, als es drauf ankam – für wen sollen sie sich nun beeilen?
Psychologisch mag das verständlich sein, der Logik der internationalen Hilfsindustrie entspricht es nicht. Die Spender in aller Welt würden, als Gegenleistung für ihre Großzügigkeit, gern Zeichen des Aufbruchs sehen, und auch die indonesische Regierung hat es sich anders vorgestellt. “33.000 Häuser sind zerstört, ganze vier sind heute wieder aufgebaut“, sagt Mawardy Nurdin, der Bürgermeister von Banda Aceh mit vorwurfsvollem Unterton. „Alle Ausländer, die hierher kommen, erzählen von ihren großen Projekten. Wir verhandeln, wir bereiten alles vor, dann melden sie sich nicht mehr. Das viele Geld, von dem immer die Rede ist, haben wir noch nicht gesehen. Stattdessen borgen sie sich ständig unsere Autos aus.“
Was der Bürgermeister nicht dazusagt: Die Behörden haben ihren Anteil an den Verzögerungen. In der Provinz Aceh, wo eine Guerilla namens GAM seit Jahren für die Unabhängigkeit kämpft, herrschte Kriegsrecht. Ausländer waren hier nie willkommen. Nach der Katastrophe riss das Militär die Sache an sich und wollte zunächst alles allein machen. Erst als es feststellen musste, dass es vom Ausmaß der Not überfordert war, ließ es die Hilfsorganisationen arbeiten. Nun, da die akute Nothilfe in die Phase des langfristigen Wiederaufbaus übergeht, will die Regierung wieder mitreden. Sie liegt wohl richtig mit der Vermutung, dass die massive Anwesenheit von Ausländern die Gesellschaft in Banda Aceh öffnen und grundlegend verändern wird. Und ganz aus der Hand geben will sie da die Regeln nicht.
Welche Stadtteile und Ortschaften werden wiedererrichtet, welche werden aufgegeben? Wie ernst ist es mit der Schutzzone von zwei Kilometern am Wasser, in der künftig nicht mehr gebaut werden darf? Es liegt an ungelösten Fragen wie diesen, dass die Hafengegend von Banda Aceh immer noch daliegt wie nach einem Atombombenabwurf. Die Reichen, die am Wasser ihre schmucken Villen besaßen, haben sich auf die hilflose Geste beschränkt, Holztafeln mit ihren handgeschriebenen Besitzansprüchen in die Erde zu rammen. Von der Welle hingeworfene Frachtschiffe liegen in ehemaligen Vorgärten und auf ehemaligen Straßenkreuzungen, so als hätte jemand vergessen, die Kulisse für einen surrealistischen Film abzubauen. Das Einzige, was dazwischen in die Höhe ragt, sind die bunten Fähnchen, die anzeigen, wo unter dem Schutt ein Mensch begraben liegt. Keine Hilfsorganisation traut sich bisher, hier, direkt vor den Augen der indonesischen Behörden, etwas anzupacken.
Weiter draußen, in den Fischerdörfern, geht es etwas besser. Einer der wenigen Orte, an denen dieser Tage geschraubt und gehämmert wird, ist Lhoong, wo die Caritas den Wiederaufbau von vier Dörfern mit insgesamt 800 Häusern finanziert. Es sind schlichte Holzhäuser, sechs mal sieben Meter groß, mit einheitlichem Grundriss. Hier steht schon ein Dachstuhl, dort erst das Fundament, hier bauen vier Nachbarn gemeinsam, dort hat eine Witwe professionelle Arbeiter engagiert. Jede Familie hat eine rote Schubkarre mit Werkzeug bekommen und muss selbst entscheiden, wie und wie schnell sie ihr Baubudget von 2100 Euro ausgibt.
Abraham Heijboer, der vom Leben gegerbte holländische Projektleiter, kennt seine Leute. Er lebt schon seit zwanzig Jahren hier. Im Kleinen steht er vor denselben Entscheidungen wie die verwüstete Provinzhauptstadt: Wer bekommt ein neues Haus – jeder oder bloß jene, die vorher auch schon eines hatten? Soll es auf den Fundamenten des alten stehen – oder weiter im Landesinneren? Soll man sich erst die Landrechte sichern, was langwierig und teuer sein kann – oder einfach mal drauflosbauen, um ein Signal zu setzen? Und: Wie viel von all dem sollen die Betroffenen selbst entscheiden?
Abraham schlurft wohlgefällig über die Hügelhänge und lauscht dem Hämmern, das noch etwas zaghaft klingt. „Wenn man den Leuten etwas aufzwingt, wird es niemals funktionieren“, sagt er.
Die Dorfgemeinschaften selbst haben entschieden, dass auch die einst Landlosen, etwa ein Zehntel der Bevölkerung, Grundstück und Haus bekommen werden. Aus den Besitzlosen rekrutierten sich bisher die Kämpfer der GAM-Guerilla, die immer wieder aus den umliegenden Hügeln in die Dörfer kamen und sich mit der Einhebung von Steuern in Form von Geld oder Nahrungsmitteln nicht nur Freunde machten. Die meisten Dorfgemeinschaften haben auch entschieden, ein bisschen Abstand zum Wasser zu halten. „Ich habe immer noch Angst davor“, sagt der 25-jährige Rizal Abidin, der eben, auf einer sicheren Anhöhe, seine Grundmauern ausmisst.
Zu den universellen Missverständnissen über Fischer gehört, dass sie eine besonders innige Beziehung zum Wasser unterhielten. Zumindest in Banda Aceh ist das Unsinn. „Das Meer hier gilt, auch in der Mythologie, als bedrohlich“, erklärt die Caritas-Programmleiterin Renate Korber, die sich als Ethnologin schon seit vielen Jahren mit Indonesien befasst. „Dem Meer muss man etwas entreißen, um zu überleben, aber man liebt es nicht.“ Die Fischer von Aceh kennen ihr Meer nicht besonders gut. Die meisten können nicht einmal schwimmen.
Auch der ehemalige Fischer Rizal denkt nicht im Traum daran, wieder im Boot hinauszufahren. Wie jeder, der Verwandte vermisst, wird auch er den Gedanken nicht los, die Fische könnten tote Menschen gefressen haben. „Wir essen nur noch Fisch aus den Flüssen“, sagt Rizal. Auf dem offenen Meer arbeiten will er nie mehr – höchstens in einem Fischteich oder in der Shrimps-Zucht.
Die Flut hat in Aceh mehr kaputtgemacht als die Häuser. Was sie für die Landwirtschaft bedeutet, wird sich erst zeigen, wenn die Bauern Tritt gefasst haben: Wird das Regenwasser das Salz aus dem Boden ausschwemmen, kann man die versalzenen Brunnen wieder auspumpen – oder haben sich durch das Erdbeben auch die Grundwasserseen verschoben?
Unübersehbar ist die Verwüstung des Handels. Der Bazar von Banda Aceh soll einst ein quirliges Gewusel von Handkarren, Waren, Geschrei und Teehäusern gewesen sein. Aus einem kleinen Straßenlokal schaufeln heute eine Gruppe Männer stinkenden schwarzen Schlamm heraus, die menschlichen Knochen, die sie dabei finden, werfen sie in einen mit Fähnchen geschmückten Bastkorb. Das große Einkaufszentrum ist eine verkohlte Brandruine, weil man es nach seiner Verwendung als Leichenhalle bloß noch anzünden konnte. Die wenigen Händler, die es noch gibt, sitzen im Dunklen – oder haben ihre Marktstände anderswohin verlegt.
Doch es besteht ohnehin wenig Nachfrage. Wer sein Haus noch hat, hat seinen Job verloren, weil der Laden oder das Büro weg ist; wer keinen Job mehr hat, hat kein Geld zum Einkaufen. Auf der von der Armee reparierten Küstenstraße fährt heute kaum ein Bus oder Lkw. Wohin auch? In den Dörfern werden kaum Geschäfte gemacht, auf den Hügeln kaum Häuser gebaut, auf dem Wasser kaum Fische gefangen, und etwa ein Viertel der einstigen Bevölkerung lebt nicht mehr.
Die Westküste Sumatras hat schöne Strände. An manchen Stellen stehen die Palmen noch. Langsam rollen kleine Wellen über den Sand. Wäre es nicht Banda Aceh – der Blick aufs Meer wäre schön.
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