Allah und das Kapital
Reportage. Im zentralanatolischen Kayseri glaubt man an Gott, den Kapitalismus und Europa zugleich. Der neue, traditionell-religiöse Mittelstand treibt das Projekt EU voran.
Eine profil-reportage aus Heft 38/2005
Es gab viele Schafe hier, als Mustafa Boydak ein junger Bursche war. Wer nicht in die Schule ging, hütete Schafe. Wer nicht Schafe hütete, arbeitete in einem der Obstgärten. Mustafa ging nie in die Schule. Doch als er sich im Obstgarten vorstellte, zum Steineklopfen, schickte ihn der Patron weg. Er war zu klein und schmächtig.
Mustafa wurde also Tischler aus Verlegenheit, zimmerte Fenster und Türrahmen. Seine erste Werkstatt war 35 Quadratmeter groß. Heute hat die Boydak-Holding eine Million Quadratmeter überdachte Fertigungshallen, 20.000 Angestellte und erwartet für 2005 einen Umsatz von 1,2 Milliarden Euro. Zur Holding gehören Istikbal, der größte Möbelproduzent der Türkei, Metall- und Textilfabriken sowie die Bank Anadolu Finans, die nach islamischen Grundsätzen wirtschaftet. „Boydak“ ist ein Name, der auf Stiftungs- und Erinnerungsplaketten prangt und den man in der Region nur mit Ehrfurcht ausspricht.
Mustafa ist heute im Ruhestand. Er ist 76 Jahre alt, immer noch klein und schmächtig, aber wenigstens kann er mittlerweile lesen und schreiben. Wenn er, mit hängenden Schultern, auf Besuch in die Firmenzentrale kommt, wo zwischen Holzfurniertäfelungen und Seidenblumengestecken seine Söhne walten, dann würde man ihn nicht für den Firmengründer, sondern für den Hausboten halten. Er erstarrt pflichtbewusst, wenn er fotografiert wird, so wie es Bauern in den fünfziger Jahren eben taten. „Ich bin kein Geschäftsmann“, sagt er. „Ich war ein Tischler. Meine Söhne wissen zehntausendmal mehr als ich. Das ist der Fortschritt, das ist Zivilisation. Ich bin bloß ein Diener.“
Mustafa Boydak steht mit seiner märchenhaften Lebensgeschichte nicht allein. Zentralanatolien erlebt seit einigen Jahren ein Wirtschaftswunder südkoreanischen Ausmaßes. Die reißbrettartige Industriezone von Kayseri, wo auch die Boydak-Werke stehen, wächst so schnell, dass die Planierraupen mit dem Straßenbau kaum nachkommen. Hier sind es Möbel; in Denizli oder Gaziantep ist es die Textilindustrie. Zweistellige Wachstumsraten, Verstädterung, Industrialisierung und eine Bildungsrevolution: Kaum beachtet vom Rest der Welt, ist im türkischen Kernland eine neue, selbstbewusste Mittelklasse entstanden. Sie ist religiös und marktorientiert, wertkonservativ und technologisch aufgeschlossen. Sie ist die soziale Basis der seit 2002 regierenden, gemäßigt islamischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Und sie ist, ohne dass viele Europäer davon wüssten, die wichtigste treibende Kraft in Richtung EU.
Im Dorf Hacilar, Mustafa Boydaks Geburtsort, sind diese Veränderungen an jeder Hauswand abzulesen. Hacilar liegt in der Nähe von Kayseri, am Fuß der Erciyes-Berge. Die weißen Tuffsteinhöhlen von Kappadokien sind ganz in der Nähe, im Winter kann man am Berg Ski fahren – aber schön ist Hacilar nicht. Überall staubt es, überall wird in der Erde gebuddelt. Hier legt man Abwasserrohre, dort Blumenrabatten für den neuen Hauptplatz, ringsum entstehen neue Wohnblocks. Bürgermeister Ahmet Herdem wieselt von einer Baustelle zur nächsten. Er liebt den Staub, denn der Staub beweist, dass etwas weitergeht. Jede Baugrube bringt ihn seinem Bubentraum näher: dass oben auf dem Berg eines Tages Olympische Winterspiele stattfinden.
Der Bürgermeister wuchs in einem der alten Steinhäuser auf, die heute im Dorfzentrum langsam in sich zusammensacken. Anatolien war damals, wie es dem heute noch gängigen Klischee entspricht: kein Strom, eine einzige Volksschule, in jedem Haus ein Teppichwebstuhl und eine Kuh, rundherum Schafe. Es war jenes Anatolien, aus dem man nach Deutschland oder Österreich auswanderte; jenes, das die Eliten in Istanbul und Ankara als rückständig verachteten. Sie lernten es kaum je kennen – und wenn doch, dann schämten sie sich dafür.
Atatürk und seine Nachfolger wollten der Provinz die Moderne aufzwingen. Sie pflanzten als Wegmarken Staatsbetriebe in die Landschaft, meist Zucker- oder Textilwerke, mit Heerscharen privilegierter, beamteter Arbeiter, die nur mit massiven Subventionen durch die Jahrzehnte geschleppt wurden. Die Ruinen sind heute von Gestrüpp überwachsen und bloß als Erholungsparks benützbar. Vor zwanzig Jahren war der Staat pleite, die von oben verordnete Industrialisierung am Ende, und der Kapitalismus schlüpfte in ein neues Gewand: jenes der anatolischen Familienunternehmen.
Das HES-Kabelwerk steht auf einem Hügel, weithin sichtbar wie ein Denkmal, und genau das ist es auch. 120 Tonnen Kupfer werden hier pro Tag zu Telefon-, Strom- oder Datenkabeln verschweißt; exportiert wird in die USA und nach Europa, gearbeitet nach EU-Standards. Über Kabelrollen, computergesteuerten Plastikschmelzen und Verpackungsmaschinen hängen Transparente mit englischsprachigen Sinnsprüchen: „Qualität bedeutet Respekt vor dem Menschen.“
Die Fabrik war ein Gemeinschaftsprojekt, gebaut auf Vertrauen und Vorsicht, wie alles hier. Fünf Kleinunternehmer legten dafür ihr Geld zusammen – Zugang zu den staatlich gelenkten Banken hatten sie in den siebziger Jahren nicht, und als konservativen, religiösen Männern waren ihnen Zinsen und Kredite ohnehin verdächtig. Prinzipien gelten, inmitten aller technologischen Neuerungen, noch heute. Bekir Irak, der Produktionsmanager, ist ein strenger Mann. Er hat in der laizistischen Türkei gelernt, nicht allzu viel von Allah zu reden. Aber dass Gott Fleiß, Ehrlichkeit und Pflichtgefühl zu schätzen weiß, ist für ihn selbstverständlich. „Der Prophet hat uns aufgetragen, unsere Talente zu nützen“, sagt er. „Doch was du verdienst, gehört nicht dir. Es ist deine Pflicht als Moslem, für Arbeit und Wohlergehen der anderen zu sorgen. Deswegen ist jede Fabrik, die du baust, ein Gebet.“
Rigide wird die Moral im Alltag nicht gehandhabt. Dieser Tage findet ein Betriebsausflug mit allen wichtigen Großkunden statt. Eine der beiden Gruppen amüsiert sich im Badeort Bodrum. Nur die Älteren, erzählt Irak, seien stattdessen lieber nach Mekka gefahren. „Jeder, wie er will“, sagt er, ohne hörbaren Grimm.
Doch im Ortsbild von Hacilar hat die Moral Früchte getragen. Die Unternehmer springen ein, wo der Staat seine Pflichten vernachlässigt: Die neue Straße hat das Kabelwerk gezahlt, die neue Moschee ein anonymer Spender, 11 der 13 Schulen wurden mit Privatgeld gebaut – auch wenn dort ausschließlich nach dem staatlich einheitlichen, strikt weltlichen Lehrplan unterrichtet werden darf. „Oturma“ heißt der Brauch des Zusammensitzens, bei dem Honoratioren besprechen, was zu tun ist. Je wichtiger die Person, desto zahlreicher die Sitzrunden.
Bei Bürgermeister Herdem sind sie sehr zahlreich. Gerade war ein Bauer bei ihm, dessen Pferd auf dem Feld tot umfiel. Herdem hat einen Unternehmer angerufen, der Bote mit dem Geld für ein neues Pferd sei gerade unterwegs, dann könne der Bauer wieder pflügen und müsse nicht betteln gehen. „Ein Reicher kann nur in Frieden leben, wenn es um ihn herum kein Elend gibt“, sagt der Bürgermeister. Er hat eine Vorliebe für Kalendersprüche. „Handel, Wohlstand und Religion gehören zusammen. Wir haben jetzt die richtige Interpretation des Korans gefunden.“
Es ist wahrscheinlich genau dieses Denken, das die AKP in der Türkei an die Macht gebracht hat – eine Bewegung von unten, gegen die abgehobenen, oft korrupten Eliten, die Anatolien und dessen Wertesystem nie wirklich verstanden. In Europa und in der EU sehen die Religiösen genau das, was ihnen im zentralistisch-kemalistischen Staat fehlt: Religionsfreiheit, Platz für die Zivilgesellschaft, Respekt für die Privatwirtschaft.
Ikbal Cavdaroglu zum Beispiel, Chefin der örtlichen AKP-Frauensektion, kann von Europa gar nicht genug kriegen, obwohl sie sich manchmal missverstanden fühlt. Eben kommt sie von einer internationalen Konferenz in Ankara. Sie konnte das Mitleid richtig spüren, das ihr entgegenschlug, als sie ans Rednerpult trat. „Die glauben immer, ich werde zu Hause misshandelt, weil ich ein Kopftuch trage“, echauffiert sie sich.
Auch Cavdaroglu verwendet das Wort „Zivilisation“, wenn sie von der EU spricht, von Reformen, Fortschritt, Rechten, Regeln: „Die sind wichtig für eine moderne Gesellschaft.“ Meint sie damit das Recht, ein Kopftuch zu tragen? Schon wieder so ein Missverständnis. „Nein, die Mülltrennung!“, ruft sie entgeistert. „Es ist gut, für solche Dinge klare Normen zu haben, die werden dann auch respektiert. Inzwischen hat bei uns jeder verstanden, dass man die Mistsäcke nur zu bestimmten Zeiten hinausbringen darf.“
Die quirlige Frau fühlt sich als moderne Reformpolitikerin, und die AKP fühlt sich als moderne Reformpartei. Kayseri ist eine ihrer Hochburgen, mit einem Wahlergebnis von 70 Prozent bei den vergangenen Parlamentswahlen 2002. Kayseri ist auch die Heimat von Abdullah Gül, dem Außenminister und Mastermind der türkischen Europapolitik. Vielleicht ist diese Gleichzeitigkeit kein Zufall.
Kayseri ist eine große kleine Stadt. Das rasante Wachstum und die 700.000 Einwohner merkt man ihr nicht an – es gibt bloß zwei Kinos, wenige Restaurants, kaum Luxusgeschäfte, keine schicken Autosalons. Hier wird nicht geprotzt, sondern brav gearbeitet, und abends ruht man sich daheim auf dem Sofa aus.
Es ist wohl auch kein Zufall, dass Kayseri gerade als Möbelmetropole erfolgreich ist. Denn daheim, in den Wohn- und Esszimmern der vielen neuen Wohnblocks, findet der Wirtschaftsboom seine soziale Entsprechung. Sadi Büyükkecici, der Chef der Elektrizitätsgesellschaft, hat die Topografie der Region genau im Auge und kann die gesellschaftlichen Veränderungen an seinen Stromzählern ablesen. Um 20 Prozent ist der Stromverbrauch im vergangenen Jahr gestiegen, 50.000 neue Haushalte wurden in Kayseri allein in den vergangenen neun Monaten ans Netz angeschlossen.
Es sind ehemalige Landarbeiter, die vom Dorf in die Stadt gezogen sind, von der Groß- in die Kleinfamilie, von der Landwirtschaft in die Industrie. Sie haben weniger Kinder als ihre Eltern und schicken ihre Kinder länger in die Schule. Wenn auch die Frau einer Erwerbsarbeit nachgeht, können sie sich bald eine kommunal geförderte Eigentumswohnung leisten, einen Hypothekarkredit aufnehmen und sich eine Schrankwand kaufen. Sie sitzen nicht mehr auf dem Boden, auf gewebten Teppichen, für die man Schafwolle braucht, sondern auf dem Sofa. Und wenn die Verwandtschaft aus dem Dorf zu Besuch kommt, dann ist es von Vorteil, wenn man aus dem Sofa mit ein paar Handgriffen ein Bett machen kann.
Gerald Knaus, Autor einer neuen Studie über die Region, nennt diese vielen, parallel verlaufenden Umwälzungen die „Sofa-Revolution“. Und auch Mustafa Boydak kann sich daran erinnern, wie „cek-yat“ („Zieh-lieg“), das bis heute erfolgreichste Produkt seines Unternehmens, sein Leben und seine Stadt veränderte. Er war ein junger Mann 1976, es war auf einer Messe in Hannover, und er sah so ein Ausziehsofa zum ersten Mal.
„Ich habe damals begriffen, was Industrialisierung bedeutet“, sagt der alte Mann, „die standardisierte Produktion, die Fließbänder, und ich erzählte allen, wie wichtig Maschinen sind. Manche haben mir zugehört, manche nicht. Die mir nicht zugehört haben, sind Pleite gegangen, die anderen sind reich.“
Aber haben all diese Menschen, die in Zentralanatolien unverdrossen das Projekt Europa vorantreiben, denn gar keine Angst vor den Verwerfungen der Modernisierung? Vor den Verführungen der Konsumgesellschaft und den Gefahren der Frauenemanzipation? Vor Scheidungen und Drogen, Schwulenehe und Gotteslästerung, Vereinsamung und Materialismus, all jenen Dingen, die Wertkonservativen überall in Europa ein Gräuel sind?
Die schnauzbärtigen Männer wiegen bei solchen Fragen stets verständnisvoll den Kopf, denken nach und lächeln dann. Wer in sich ruht, muss sich nicht fürchten, sagen sie. Wer glaubt, was er lebt, dem gibt Gott Sicherheit, auch in rauen Wassern.
„Wenn man seine Tochter richtig erzogen hat, kann man sie ruhig auch abends allein fortgehen lassen“, antwortet Bürgermeister Herdem mit einem weiteren Kalenderspruch und gibt jedem Besucher Plakate mit. Sie zeigen Schafherden, mit Pferd und Hirten. Das Foto stammt aus dem vergangenen Jahr, sagt er, heuer gebe es die Schafherden gar nicht mehr, aber man habe die Plakate den Ausländern zuliebe gemacht. Die sollen sich Anatolien nämlich genau so vorstellen dürfen, wie sie es gewohnt sind.
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