Die Stimme aus dem Abgrund
Der ORF-Reporter Friedrich Orter erzählt uns, wie Krieg ist, wenn man ihn ganz aus der Nähe erlebt: schmutzig, staubig, banal.
Ein Portrai
Dann stand er also knapp vor Kabul. Die Taliban flohen eben Hals über Kopf aus der Stadt, die Kämpfer der Nordallianz harrten auf den richtigen Moment zum Einmarsch, der Wind pfiff über die Ebene, und bei Fritz Orter rumorte es im Gedärm. Ein paar einzelne Dollarnoten besaß er noch, der Akku des Satellitentelefons war leer, die Ruhr jagte Fieberschübe durch seinen Körper, und sein Übersetzer war weg. „Das wars dann wohl, hab ich mir gedacht.“
Der Übersetzer, der den ORF-Reporter bis hierher begleitet hatte, von der tadschikischen Grenze durchs ganze Pandschir-Tal, über Gebirgspässe und durch Flussfurten, war ein fünfzehnjähriger Bursch. Er hatte sich ein paar Jahre älter gemacht, um diesen Job zu kriegen, und von seiner Familie offenbar den Auftrag bekommen, den Westler auf der Reise nach Strich und Faden auszunehmen, solange der noch etwas in der Tasche hatte. Jetzt hatte der Westler nichts mehr in der Tasche.
Irgendwie erreichte er dann doch noch den ORF am Telefon, irgendwie schaffte es die Finanzabteilung, 20.000 Dollar an einen afghanischen Vertrauensmann zu überweisen, irgendwie kamen 5.000 davon tatsächlich an, irgendwie schaffte er mit 40 Grad Fieber dann auch noch den ganzen holprigen Rückweg. Er war abgemagert, als er nach Wien zurückkam. Und der Sturz der Taliban, auf den die ganze Welt gewartet hatte, war ohne Friedrich Orter passiert.
Das Leben als Kriegsreporter ist nicht glamourös, weil auch Krieg nicht glamourös ist. Krieg ist schäbig, banal, gnadenlos zufällig und fast immer ungerecht: Es ist Orter ein dringendes Anliegen, das immer wieder zu sagen. Und damit man es ihm glaubt, muss er immer wieder losfahren, nach Bagdad und in den Libanon, zu den Kosovaren und zu den Kurden, und für den ORF Berichte drehen, die in staubigen Seitengassen, gottverlassenen Dörfern, vermüllten Flüchtlingslagern oder am Rand windiger Überlandstraßen spielen.
Denn so schauen eben jene Orte aus, an denen das abstrakte Wort „Krieg“ auf konkrete Menschen trifft. Wenn eine Granate ein Loch in die Wohnzimmmerwand über dem Sofa gerissen hat, wenn der gebrechliche Opa nicht mehr aufstehen kann, weil ihm Paramilitärs das Bein zertrümmert haben, wenn man die Kinder im dunklen Keller versteckt, weil man nicht weiß, ob die nächsten, die an die Tür hämmern werden, Freunde oder Feinde sind. „Den 80jährigen muss man nicht erklären, wie Krieg ist, die wissen das“, sagt Orter. „Aber alle anderen wissen es nicht.“
Orter misstraute immer schon den naheliegenden Anworten. Er hält bis heute nicht viel von Menschen (und Kollegen), die mit großer Geste die Welt erklären, ohne jemals irgendwo in der Fremde gefroren oder sich gefürchtet zu haben. Man muss, sagt er, mitunter Erfahrungen am eigenen Leib zulassen, um etwas zu verstehen.
Vielleicht liegt diese Weltsicht an seiner Herkunft. Orter nennt sich einen „Karawankenflüchtling“. Er kommt aus St. Georgen, einem Dorf im gemischtsprachigen Südkärnten. Sein Vater war Landwirt und Besitzer eines Sägewerks, nach der Schule half der kleine Fritz bei der Arbeit. Man lebte unter Menschen, die man „Windische“ nannte. Die sangen dieselben Lieder, aber man verstand ihre Sprache nicht, und wenn man betrunken war, prügelte man einander auf den Dorffesten.
Mit vierzehn wollte Fritz herausfinden, ob das, was man sich im Dorf schaudernd über Tito und die Partisanen erzählte, eigentlich stimmt. Er schwang sich aufs Fahrrad und radelte nach Ljubljana hinüber. Entgegen den Warnungen seiner Nachbarn kam kein Slowene dort auf die Idee, ihn umzubringen. Stattdessen setzte sich der Bursch auf den Hauptplatz, stellte fest, dass Ljubljana um einiges größer, schöner und weltläufiger war als Klagenfurt, und dass man dort, anders als in Klagenfurt, schon 1965 Musik von den Beatles hörte. „Nur die Schokolade war schlechter als daheim.“
Orter braucht für solche Geschichten nicht viele Sätze. Er schaut hin und erzählt, was er gesehen hat. Eigenschaftsworte sind dabei überflüssig, Verben manchmal auch. Diese Kargheit reicht heute, um inmitten globaler Fernsehgeschwätzigkeit nachhaltig aufzufallen. Ein bisschen erinnert Orter damit an den Inspektor Columbo: Unauffällig zerknautscht ausschauen, umso schneidender interpretieren. Bei beiden weiß man: Sobald der auftritt, muss man hinschauen, denn jetzt wirds ernst.
„Flankenatmung, das kann man lernen“, sagt Orter denn auch knapp, wenn man ihn nach dem Geheimnis seiner markanten Stimme fragt. Orter redet so, als würde er seine Zuhörer an einen gähnenden Abgrund führen und ihnen einen kurzen Blick hinunter erlauben, während er sie schützend an der Hand hält. Atemtechnik hat Orter schon am Stiftsgymnasium St. Paul gelernt, wo der spätere Burgtheaterschauspieler Peter Simonischek zwei Klassen über ihm maturierte. „Ich hab mir seine Plattenaufnahme von der Strudlhofstiege gekauft und hundertmal angehört. Peter O’Toole und Richard Burton als Hamlet waren ebenfalls hilfreich. Und meine Frau. Die hat Gesang studiert.“
ORF-Reporter, die ihr Gesicht auf dem Bildschirm zeigen, müssen damit leben, auf der Straße erkannt zu werden. Wie es denn „wirklich war“, dort wo er war, wird Orter oft gefragt. Warum er denn so mutig sei. Und wie man so ein Leben aushalte.
Solche Fragen machen ihn stets verlegen. „Ich mach das nicht, um den Helden zu spielen“, sagt er – und reicht die Heldenrolle weiter. An seine Stringer, Fahrer, Übersetzer, Kameraleute und Leibwächter – an all jene Einheimischen, ohne die es keine Kriegsberichte gäbe, und die allesamt ohne Rückflugticket und ohne pralles Spesenkonto arbeiten. Er erzählt von seinem Quartiergeber in einem schäbigen kleinen Hotel in Bagdad, der ihn vor einem Entführungskommando versteckte. Von der Dolmetscherin in der Krajina, die unter Lebensgefahr von einer Seite der Front auf die andere wechselte. Vom Kameramann, der sich als schiitischer Milizionär verkleidete, um aus dem Schiitenviertel Bilder heimzubringen.
Wenn solche Menschen getötet werden, gibt es keine Nachrufe. „Es bleibt Scham und Schweigen“, schreibt Orter knapp in seinem Buch.
Er sei, sagt er, ein bisschen demütiger geworden in letzter Zeit. Doch er wird weiterhin hinausfahren in die Welt, wenn der ORF ihn lässt, denn er wüsste nicht, was er sonst tun sollte.
Wenn eine Autotür knallt, zuckt er jedesmal zusammen. Es ist eine der kleinen Schrammen, die man in dreißig Jahren in diesem Beruf davonträgt. Es sei eine relativ harmlose Schramme, sagt er.
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