Immer an der Kippe
Im „Haus Miriam“ kommen Frauen unter, deren Leben aus den Fugen geraten ist. Seit zwanzig Jahren.
Reportage: Sibylle Hamann
Miriam war eine Prophetin. „Sie nahm ein Tamburin in ihre Hand, und alle Frauen folgten ihr tanzend“, heißt es im Alten Testament. Sie war vorn mit dabei, als das jüdische Volk das Joch der Knechtschaft in Ägypten abschüttelte und sich auf den Weg machte ins gelobte Land.
Inzwischen ist Miriam, trommelnd oder auch nicht, im 18. Wiener Gemeindebezirk angekommen, gleich gegenüber vom Café Schopenhauer. Es ist die schmuddelige Ecke des Achtzehnten, zwei Häuser weiter rauscht der Gürtel vorbei, nachts stehen dort Frauen in hochhackigen Stiefeln am Straßenrand.
Doch wer das „Haus Miriam“ betritt, ist sicher. Es ist ein großzügiges, vierstöckiges Gründerzeithaus mit verspielten Erkern. Offiziell heißt es „Übergangswohnhaus für Frauen in psychischen und sozialen Krisen.“ 38 Frauen wohnen hier in drei WGs; im Kellergewölbe ist die Kapelle, im Erdgeschoß die Großküche, unterm Dach der Bastelraum. Eine unbestechliche Portiersfrau wacht hinter der schweren Eingangstür, denn oben sind weder Alkohol noch Drogen noch Männer erlaubt. Betrieben wird das Haus von der Caritas. Diese Woche feiert es, mit indischen Tempeltänzerinnen, Sekt und Geburtstagskuchen, sein zwanzigjähriges Bestehen.
Man kann das Haus also eine „Institution“ nennen. Oder seine vielen Geschichten erzählen.
Die Geschichte von Elisabeth zum Beispiel. Die 61jährige zappelt vor Freude, wenn Besuch kommt. Still sitzen kann sie nicht, ständig muss sie erzählen, jemanden umarmen, etwas tun. Eben hat sie ihre geflochtenen Kaffeehäferl-Untersetzer gewaschen, weil sie staubig waren, und eine Eierspeis gekocht. Jede Betreuerin im Haus, sagt Elisabeth stolz, könne bestätigen, dass sie sich eines der gepflegtesten, gemütlichsten Zimmer im Haus eingerichtet habe.
Es war ein langer, verschlungener Weg hierher. Er begann in Sao Paolo, wo Elisabeth als Kind steirischer Eltern geboren wurde. Sie hatte einen guten Job als Sekretärin bei VW, besaß eine schöne Wohnung am Strand, bis irgendwann alles aus dem Ruder lief. Sie wurde arbeitslos, den Mann hatte sie rausgeworfen, die Tochter hatte ihr nicht mehr viel zu sagen, der Cockerspaniel starb, und plötzlich war ihr Leben ein leerer, gähnender Abgrund. Da erinnerte sich Elisabeth an ihre österreichische Staatsbürgerschaft und beschloss, ganz neu anzufangen.
Im Gespräch mit dem Taxifahrer, der sie aus Schwechat nach Wien brachte, begann der kühne Plan bereits zu bröseln. Als sie anderntags, mit 59 Jahren, beim Arbeitsamt vorstellig wurde, zerplatzte er endgültig. Sie wohnte in der Jugendherberge, „ein sehr fescher junger Mann stand dort an der Rezeption“, bis ihr das Geld ausging. Im Obdachlosenquartier fand sie sich zu ihrem Schrecken neben drogenkranken Teenagern wieder. Ohne Job, ohne Freunde, ohne Plan B landete sie schließlich mit zwei Koffern im Haus Miriam.
Ein Jahr ist das jetzt her. Nächsten Dienstag kommen die Möbelpacker. Elisabeth ist gerade eifrig dabei, die Häferluntersetzer, die Fotos und unzählige Stoffbären in Säcke zu packen. Sie hat eine kleine Gemeindewohnung bekommen.
Für Erna Nußbaumer, die Leiterin des Hauses, ist jeder Auszug ein Erfolg. Nußbaumer, eine resolute Vorarlbergerin, ist Managerin, Seelsorgerin und Feministin gleichzeitig. In den zwanzig Jahren, seit sie hier ist, hat sie schon mehrere hundert Frauen verabschiedet, bei den Jubiläumsfeiern werden hoffentlich einige davon zu Besuch kommen. Man müsse loslassen, sagt sie. Dennoch hat sie manchmal das Gefühl, es gehe alles ein bisschen zu schnell.
„Wir konnten den Frauen früher mehr Zeit lassen, um Boden unter die Füße zu kriegen. Jetzt haben sie beim Arbeitsmarktservice grade mal sechs Monate, dann müssen sie normal funktionieren. Für Langsamere gibt es heute keine Nischen mehr. Man muss gut sein, um einen Job zu behalten. Auch wenns ein Putzjob ist.“
Wie „normal“ aber sind die Frauen hier, wieviel Funktionstüchtigkeit kann man von ihnen verlangen? Das Haus Miriam ist ein guter Ort, um solche Fragen auszuloten. Denn es offenbart recht präzise die Sollbruchstellen in unserem sozialen Netz.
Da sind zum Beispiel Frauen, die Gewalt in der Familie erleben. Wenn sie akut bedroht sind, kommen sie in Frauenhäusern unter, aber wohin sollen sie langfristig? Da sind Haftentlassene, die keine Anknüpfungspunkte an ihr früheres Leben mehr finden. Patientinnen, die nicht krank genug sind fürs Spital, aber nicht gesund genug für die Selbstständigkeit. Und da sind Obdachlose, die man nicht als solche erkennt. „Frauen landen nicht so schnell auf der Straße“, hat Nußbaumer beobachtet. „Sie schlüpfen bei einem Mann oder bei Verwandten unter und leben oft jahrelang unter entwürdigenden Bedingungen.“
In den vergangenen Jahren haben die Sozialarbeiterinnen noch ein neues Konfliktmuster ausgemacht, das ihnen Sorgen macht: Fast die Hälfte der Bewohnerinnen im Haus Miriam sind mittlerweile Migrantinnen, die mit Österreichern verheiratet sind, aber aus verschiedensten Gründen nicht in die eheliche Wohnung zurückkönnen.
Sie haben in Wien keine Freunde und keine Familie. Das neue Fremdenrecht hat ihre Abhängigkeit vom Ehemann noch verstärkt. Sie haben keine Arbeitsgenehmigung und keinen Anspruch auf Sozialleistungen, ihr Aufenthaltsrecht ist an die Ehe gebunden – deswegen können sie sich nicht scheiden lassen und auf Unterhalt klagen. Und weil der Staat es ihnen unmöglich macht, materiell für ihre Kinder zu sorgen, verlieren sie oft auch noch das Sorgerecht.
„Wenn ein Vater Österreicher ist, sind die Gerichte heilfroh, wenn sie ihm die Kinder zusprechen können“, sagt eine Beraterin bitter. „Der kennt seine Rechte, spricht deutsch, hat eine Wohnung und ein gutes Einkommen. Die Ausländerin, die er sich aus dem Urlaub mitgebracht oder aus dem Katalog bestellt hat, hat als Mutter keine Chance. Die bleibt einfach übrig.“
Dass beschädigte Biographien oft mit psychischen Problemen einher gehen, verwundert nicht. Diese riesige Grauzone loten die Betreuerinnen im Haus Miriam täglich in allen Schattierungen aus. Manchmal, hat Erna Nußbaumer beobachtet, sei eine psychische Störung auch ein Schutz vor einem Leben, das anders nicht auszuhalten sei. „Ich hör mir manchmal die Geschichten an und denk mir: Da wär ich auch krank“, sagt sie.
Gut wenigstens, dass Frau Elisabeth immer da sein wird, um Stimmung zu machen. Sie will, auch wenn sie ausgezogen ist, weiter in der Portierloge oder in der Küche aushelfen, denn stillsitzen wird sie nicht mehr lernen. Sie macht eine Therapie, um mit ein paar finsteren Geschichten aus ihrer Vergangenheit klarzukommen, sie macht Gedächtnistraining, um nichts zu vergessen, sie ist stolz darauf, keine Tabletten zu nehmen, sie denkt viel an die Sonne in Brasilien, aber sie weiß, dass es kein Zurück mehr gibt.
Vielleicht gehen sich zu den Feiertagen wenigstens ein paar Tage in Teneriffa aus, „aber unbedingt mit einer Reisegruppe“, sagt sie. Denn vor nichts hat Elisabeth so viel Angst wie vor dem Alleinsein.
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