Hast ein Problem, Kevin?
Buben suchen Zuflucht in Männlichkeitsklischees, um cool zu wirken. Bubenarbeit kann sie aus der Ecke herausholen.
Sibylle Hamann
Was willst du werden, wenn du groß bist, Kevin? Wenn Buben fünf Jahre alt sind, ist das eine unschuldige Frage, auf die meistens herzige Antworten kommen. Astronaut. Polizist. Fußballer. Wenn Burschen fünfzehn sind, hat die Frage ihre Unschuld verloren.
Kevin will Mike Tyson werden. Weil der superreich ist, einem anderen Boxer ein Ohr abgebissen und eine Frau vergewaltigt hat. Geiler Lebenssstil, Oida. Wie man Mike Tyson wird, hat sich Kevin noch nicht so genau überlegt. Boxen kann er nicht. Wird er halt lernen. Irgendwann später. Derweil sitzt er noch, ziemlich lustlos, in einem polytechnischen Lehrgang in der Wiener Vorstadt seine Zeit ab. Voll unnötig die Schule, Oida. Nur Egoshooter spielen ist geil. Da zerfetzt man alles. Sonst noch was? Nix sonst. Mike Tyson rules.
Kevin ist schon länger nicht mehr gefragt worden, was er werden will, wenn er groß ist. Groß ist er ja schon, beinahe ausgewachsen, mindestens 60 Kilo schwer, Es hat ihn auch schon länger niemand mehr gefragt, worüber er reden will, oder wie es ihm geht. „Is was?“, „Hast ein Problem?“ Solche Fragen signalisieren in seinem Umfeld üblicherweise nicht ehrliches Interesse, sondern den Beginn einer Schlägerei.
Kevin ist, wenn man ihn auf den ersten Blick beurteilt, einer jener „Problemfälle“, die Zeitungskommentatoren Sorgen machen, wenn sie über die Zukunft der Gesellschaft nachdenken. Sein Elternhaus nennt man „bildungsfern“. Daheim gibt es die neueste X-Box, aber kaum ein Buch. Der Vater ist schon lang weg, die Mutter arbeitslos. Manchmal haben Burschen wie Kevin Migrationshintergrund, manchmal nicht. Fast immer haben sie schlechte Schulnoten und null Bock. Keine Sprache, außer ein paar starken Sprüchen. Kein Bezugssystem außer der Clique, mit der sie im Einkaufszentrum herumhängen. „Lugnern“ heißt das Verb dazu.
Was denkst du über Sex, Kevin? Wann hast du zuletzt Gewalt erlebt? Wie hat sich das angefühlt? Wo siehst du dich, wenn du 25 bist? Willst du Kinder haben?
Der Mann, der solche Fragen stellt, heißt Philipp Leeb. Auch Leeb ist cool, aber irgendwie anders cool. Er trägt Turnschuhe, Jeans und Kapuzenjacke wie die meisten Burschen um ihn herum. Doch er ist schon Ende dreißig, so alt wie die Eltern und die Lehrer. Heute sitzt Leeb mit Kevin und acht anderen in einem Sesselkreis in der Mitte der Schulklasse. Die Mädchen sind nicht da, die machen ein eigenes Programm. Es ist Buben-Workshop, zwei Tage lang.
Machen wir ein Spiel, sagt Leeb. Acht schlaksige Halbwüchsige stellen sich Schulter an Schulter und rollen genervt mit den Augen. Augen zu. Sie versuchen, in der Runde ein Signal weiterzugeben, indem sie einander anstupsen. Es ist ihnen ein bisschen peinlich. „Greif mich nicht an, du Schwuchtel“. Aber es dauert nicht lang, bis das Augenrollen aufhört, denn irgendwie lustig ist ja doch; spielen, wie damals im Kindergarten.
Aufmerksam sein. Wahrnehmen, wo der andere beginnt. Spüren, was man auslöst, mit dem, was man sagt oder tut: So fängt Bubenarbeit an.
Philipp Leeb ist gelernter Sonderschullehrer, aber kein typischer Lehrer. Er hat im WUK, im Epizentrum der Alternativpädagogik, gearbeitet, ebenso wie in der öffentlichen Volksschule im Problembezirk. Außerdem erwähnt sein Lebenslauf: Theaterstatist, Beleuchtungsdouble, Balletttänzer, Breakdancer, Hilfsarbeiter, Kellner, Postzusteller, Babysitter, Kameramann, Au Pair, Siebdruckgehilfe. Ganz offensichtlich ist Leeb keiner, der stets die Nähe von Gleichgesinnten sucht.
Leeb hätte Lehrer bleiben können. Männer sind in diesem Beruf heiß begehrt und umworben. Stattdessen machte er sich selbstständig und gründete vor drei Jahren den Verein „Poika“. „Poika“ ist finnisch und heißt „Junge“ oder „Sohn“, und bietet gendersensible Fortbildungsseminare und Workshops an, für Lehrer und Lehrerinnen, Erzieher und Erzieherinnen, sowie für Buben in Schulen und Jugendzentren. Sozialarbeit für die Unterklasse sei das keine, versichert er. „Die reichen Kids sind manchmal rhetorisch besser drauf und sagen eher, was ich hören will. Doch die patriarchalen Sturkturen sind in der Sozialwohnung dieselben wie in der Villa.“ Worum es geht? „Darum, ein Selbstbewustsein zu entwickeln, das nicht auf Aggression oder der Abwertung anderer beruht“, erklärt Leeb.
Für Pubertierende ist das leichter gesagt als getan. Da ist Posen das wichtigste. Alles gesehen, alles erlebt haben, Drogen, Alkohol, Schlägereien, Sex, Porno. Bloß nicht zugeben, dass man keine Ahnung hat. Bloß nicht zugeben, dass man sich fürchtet.
Was kannst du besonders gut, Kevin? Chillen. Masturbieren. Online-Pokern. Türken hauen.
„Ich kann besonders gut kochen“, sagt Leeb. Kurze Irritation. Der Mann, der hier spricht, hat einen deutlich beeindruckenderen Bizeps als die kickboxgestählten Burschen der Runde, und erzählt dennoch freimütig davon, wie er sich um seine zwei kleinen Töchter kümmert. Es soll vorkommen, dass er dabei sogar mit Puppen spielt. Ein Weichei, dem nichts peinlich ist? Wie passt das zusammen?
„Ist doch schwul“, lautet der klassische Satz, der in solchen Momenten fällt. Dann redet man drüber, was das heißt – schwul sein. Wieso es als Schimpfwort verwendet wird. Wie das von jemandem wahrgenommen wird, der vielleicht tatsächlich schwul ist. Ach so? So hab ich mir das noch gar nicht überlegt.
Zu viert sind die Männer von Poika imzwischen. Edgar Heimedinger kommt aus der selbstverwalteten Politik, Emanuel Danesch ist Filmemacher, Wolfgang Pospischill Musiker. Mit dem, was sie an Bubenarbeit machen, sind sie in Österreich noch ziemlich allein. Frauen haben ihre eigenen Räume, verteidigen ihre Institutionen. Es gibt ein Frauenministerium, Lehrstühle für Frauenforschung, Frauenberatungsstellen. Doch die Männerforschung führt, anders als in Skandinavien, noch eine Nischenexistenz. Die Männerabteilung im Sozialministerium war lange Zeit eine Lachnummer, die ihren Auftrag nicht ganz verstand, die Männerberatung bekommt kaum Geld. Und während am Girls‘ Day tausende Mädchen im ganzen Land zu Tischlerinnenlehren, IT-Berufen und Ingenieurstudien ermutigt werden, nimmt die Öffentlichkeit vom Boys‘ Day (siehe xx) kaum Notiz.
Wenn sich Männeraktivisten zu Wort melden, hat das oft eine revanchistische, antifeministische Schlagseite. Bei den Scheidungsvätern etwa, die über ihre Benachteiligung im Sorgerecht klagen. Oder bei jenen, die die Benachteiligung von Buben im Schulsystem anprangern. Die weiblich dominierte Lehrerschaft sei schuld, lautet dann der Vorwurf. Lehrerinnen könnten mit lebhaften Buben nichts anfangen, würden Mädchen bevorzugen, und überhaupt blieben Burschen bei all der feministischen Mädchenförderung auf der Strecke.
Tatschlich weisen die Statistiken die Buben als Verlierer des Bildungssystems aus: Sie stellen solide Mehrheiten bei Schulabbrechern, Sonderschülern, Sitzenbleibern und Verhaltensauffälligen. Sie haben im Durchschnitt die schlechteren Noten, und sind seit einigen Jahren bei den Maturaabschlüssen in der Minderheit.
Doch auf Klagen will sich Philipp Leeb gar nicht erst einlassen. So wie er auch die Schuldzuweisungen zorniger Männer gegen den Feminismus mit einem Achselzucken quittiert. „So wie sich Frauen aus den Klischees von Weiblichkeit gelöst haben, müssen wir uns aus den Klischees von Männlichkeit lösen“ sagt er. „Das ist nicht gegen den Feminismus gerichtet. Sondern es ist der zweite, fehlende Teil davon.“
Nicht der Feminismus sei das Problem der Buben in den Schulen, sondern der mangelnde Respekt, der ihnen oft entgegengebracht wird. Speziell jenen, die als „Problemfall“ oder „Versager“ gelten. „Die Gestörten, die Depperten – was soll von denen noch kommen, wenn man sie einmal so abgestempelt hat?“
Es ist selten, dass solche Burschen etwas gefragt werden, das nicht wie ein Vorwurf klingt. Es ist selten, dass jemanden interessiert, was sie über sich erzählen. Es ist selten, dass jemand sie ernst nimmt.
Bist du gern ein Mann, Kevin? Warum? Oder wärst du manchmal lieber ein Mädchen?
Nein, Augenrollen gilt nicht. Die Frage ist völlig ernst gemeint.
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