Ich seh, ich seh was du nicht siehst
Überwachungskameras dienten der Kontrolle der Bürger. Immer häufiger dienen sie heute der Kontrolle durch die Bürger. Staat und Polizei müssen sich daran erst gewöhnen.
presse-kolumne
Traditionellerweise kennen Bürger Überwachungskameras bloß aus einer einzigen Perspektive: Dass sie ab und zu ins Bild geraten. Die Geräte sind an Orten installiert, die man für besonders schutzwürdig und/oder gefährdet hält. An Banken, Polizeistationen, Gerichtsgebäuden, Parlamenten, jüdischen Einrichtungen; in Fußballstadien, Flughäfen, Tiefgaragen, U-Bahn-Stationen. Manchmal auch an ganz normalen öffentlichen Plätzen. Überwachungskameras waren als Unterstützung für die Exekutive gedacht. Sie sollten helfen, Verbrechen zu verhindern. Oder zumindest helfen, sie nachträglich aufzuklären.
In totalitären Systemen sind Überwachungskameras ein effizientes Herrschaftsinstrument. Sie erzeugen Angst und Paranoia. In keinem Hotelzimmer, keinem Büro, keiner Wohnung sollen Untertanen sicher sein, nicht beobachtet zu werden. Auch in der Science-Fiction-Literatur haben sie ihren fixen Platz. Doch so verschiedenen die Phantasieszenarien, eins hatten sie stets gemeinsam: Kameras waren in der Hand der Mächtigen.
In den vergangenen Jahren hat sich hier jedoch etwas Entscheidendes verändert (und kein mir bekannter Science-Fiction-Roman hat es vorausgesehen): Heute hat jeder Bürger, jede Bürgerin eine Überwachungskamera in der Hand. Jedes Smartphone hat mittlerweile eine Videofunktion, die innerhalb von Sekunden aktivierbar ist. Damit hat sich die Richtung der Kontrolle verändert. Die Bürger sind nicht mehr bloß Bildmaterial, sie sind Wächter und Produzenten geworden. Sie entscheiden, wann sie auf „Aufnahme“ drücken. Und wem sie was zeigen.
Die Exekutive spürt bereits, wie sich das Verhältnis umdreht. Sie steht, sobald sie in der Öffentlichkeit Dienst tut, unter permanenter Beobachtung. Sie kann sich nicht mehr automatisch drauf verlassen, dass ihre Aussage zählt, sobald Aussage gegen Aussage steht. Sie muss ihr Verhalten immer häufiger rechtfertigen. Und sogar damit rechnen, der Lüge überführt zu werden.
Die Unruhen, die seit mehreren Wochen die USA erschüttern, sind dafür eine gute Illustration. Ein Polizist jagte Ende April in North Charleston/South Carolina einem Mann hinterher. Der Mann habe Widerstand geleistet und ihn mit einer Waffe bedroht, sagte der Polizist. Der Mann lief davon, wurde vom Polizisten in den Rücken geschossen, die Waffe legte man nachher dazu – so zeigte es das Handy-Video, das ein Passant aufgenommen hatte.
Ähnliches haben wir vor 12 Jahren auch in Österreich bereits erlebt. Vom Fenster seiner Wohnung aus filmte ein Anrainer, wie der Physikstudent Seibane Wague im Stadtpark zu Tode kam: Mehrere Polizisten standen auf seinem Kopf und Körper. Oder die Szene in der Silvesternacht am Schwedenplatz, wo eine aus dem Ruder gelaufene Amtshandlung gegen eine betrunkene Frau mit schwersten Verletzungen endete: Die Tankstellenkamera zeigt, dass ihre Version der Geschichte stimmte.
Das Smartphone mit seiner kleinen digitalen Kamera sei „revolutionär für die Bügerrechte“, sagt David Simon, Ex-Polizeireporter in Baltimore und Autor der legendären TV-Serie „The Wire“, die genau dort spielt, wo die aktuellen Zusammenstöße stattfinden.
Die nächste Stufe dieser Auseinandersetzung ist vorgezeichnet. Der Staat will sich die Hoheit über die Bilder wieder zurückholen. Dem Narrativ der Bürger, der Passanten, der Zeugen ihr eigenes Narrativ hinzufügen. Die US-Regierung beschloss Anfang Mai das Budget, um die Polizei mit 50.000 Körperkameras auszustatten. In Österreich, ist der „Presse“ zu entnehmen, ist ähnliches geplant. „Wenn Ärger zu erwarten ist“, sollen die Beamten auf „Aufnahme“ drücken. Die Polizei wird dann selbstverständlich auch entscheiden wollen, welche Bilder geslöscht, welche archiviert und welche öffentlich verbreitet werden.
Der Kampf um die Wahrheit, soviel ist klar, ist stets ein Kampf um die richtige Perspektive. Er geht in die nächste Runde.
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