100 Jahre Rotes Wien: Ist das genug?
Licht, Luft, Bildung und Würde für die Arbeiterklasse: Das war die große Ambition der SPÖ in der Zwischenkriegszeit. Heute wäre das genauso wichtig wie eh und je
presse-kolumne
Der große Showdown um Wien hat begonnen – genau in dem Jahr, in dem das Rote Wien seine 100 jährige Geschichte feiert. Schwarzblau würde sich freuen, wenn die rote Festung endlich fiele. Die Wiener SPÖ hingegen ist stolz auf das Erbe der Ersten Republik und verteidigt es mit allen Mitteln. Aber: Wieviel davon ist überhaupt noch da? Lohnt sich die Verteidigung?
Im Stadtbild sieht man das Erbe des Roten Wien auf Schritt und Tritt. Die Freibäder, die Büchereien in jedem Bezirk, vor allem die riesigen Gemeindebauhöfe. Licht, Luft, Bildung, Gesundheit und Würde wollte man dem Proletariat damals schenken. Hunderttausende, die um die Jahrhundertwende noch in finsteren, feuchten, überfüllten Zinshäusern wohnten, bekamen in den folgenden Jahrzehnten tatsächlich einen Traum erfüllt: Die saubere, leistbare Dreizimmerwohnung. Mit Heizung! Und Bad! Im Gegenzug erwartete sich die SPÖ bloß zweierlei: Wählerstimmen und ewige Dankbarkeit.
Die neue Arbeiterklasse, die in den Siebzigerjahren aus anderen Ländern zuwanderte (und nicht wählen durfte), schloss man von diesem Traum jedoch aus. Eine ganze Generation Proletarier wuchs so wieder in denselben finsteren, feuchten Zinshäusern heran. Als die SPÖ den Gemeindebau 2006 schließlich für Ausländer öffnete, tat man das still, beinahe verschämt – so als traue man den eigenen Leuten den nüchternen Blick auf die Arbeiterrealität nicht zu. Heute wohnt übrigens die dritte Generation Proletarier in finsteren, feuchten Zinshäusern – Zeitungsausträger, Paketboten, Putzfrauen. Je ärmer sie sind, desto mehr zahlen sie dafür.
Neben den Gemeindebauten standen traditionell die Kleingartensidlungen, auf öffentlichem Grund. Hier sollte das Proletariat Obst und Gemüse pflanzen, sich an der frischen Luft bewegen, und nebenbei die Lebensmittelversorgung der Stadt in Krisenzeiten sichern. Heute, wo die Sehnsucht nach gemeinsamem Gärtnern boomt, ist von dieser Idee nicht viel übrig. Seit einer Gesetzesänderung 1992 sind die Gärten zu Kleinbürgerfestungen verkommen, dreistöckig verbaut, ganzjährig bewohnt, zu 40% in Privatbesetz. Statt Obst und Gemüse gibt es Rasen und Pool.
Oder die Volkshochschulen. Sie waren gedacht, um dem Proletariat, das vom bürgerlich-elitären Wissenschaftsbetrieb ausgeschlossen wurde, Bildung zu ermöglichen. Bis heute kann man an den VHS so gut wie alles lernen – von Spanisch über Yoga bis zu Buchhaltung. Was für eine großartige Ressource für eine Stadt, in der auch heute tausende Analphabeten leben! In der Praxis jedoch sind genau jene Menschen, die die VHS am dringendsten brauchen würden, am schwierigsten zu erreichen. Wer bildungsnah ist, schaut auf die VHS-Website und findet seinen Kurs. Bei Bildungsfernen überwiegen allzu oft Scheu, Scham und die Angst, sich lächerlich zu machen. Es sind exakt dieselben Mechanismen, die jahrzehntelang Arbeiterkinder von Gymnasien und Universitäten ausschlossen. Die Volksbildung neu zu erfinden, wäre dringend notwendig – aber wie?
Oder die Kinderbetreuungseinrichtungen. Dass Kindergärten, Ganztagsschulen und Horte in Wien die besten in ganz Österreich sind, ist unbestritten. Auch hier jedoch klafft eine Lücke zwischen Ambition und Wirklichkeit. Eigentlich wollte man jenen Kindern, die es daheim am schwersten haben, die meisten Ressourcen zukommen lassen. Oft jedoch ist es umgekehrt. Jede Wiener Familie kennt jene besonders tollen öffentlichen Kindergärten, in denen, wie durch Zauberhand hineinsortiert, lauter bürgerliche Kinder sind. Und jene schäbigen Inseln der Hoffnungslosigkeit, wo unterprivilegierte Kids unter sich bleiben.
Das großartige Wiener Öffi-Angebot schließlich ist allseits bekannt. Aber haben Sie sich auch schon einmal gefragt, wieso ausgerechnet die Straßenbahnlinie 6 – sie verbindet die Arbeiterbezirke Rudolfsheim-Fünfhaus, Meidling, Favoriten und Simmering – die vollste und trostloseste von allen ist?
Über mich | about me
Tagcloud
alltag arbeit asyl demokratie europa familie feminismus FPÖ frauen geld geschichte gewalt global grüne identität integration irre islam kinder konsum krieg lügen macht medien medizin menschenrechte migration männer nazis ORF pflege reisen revolte schule sex soziales sprache USA verbrechen verkehr wien wirtschaft ÖVP öko österreichBlogroll
Archive
- Oktober 2019
- Juli 2019
- Juni 2019
- Mai 2019
- April 2019
- März 2019
- Februar 2019
- Januar 2019
- Dezember 2018
- November 2018
- Oktober 2018
- September 2018
- August 2018
- Juli 2018
- Juni 2018
- Mai 2018
- April 2018
- März 2018
- Februar 2018
- Januar 2018
- Dezember 2017
- November 2017
- Oktober 2017
- September 2017
- August 2017
- Juli 2017
- Juni 2017
- Mai 2017
- April 2017
- März 2017
- Februar 2017
- Januar 2017
- Dezember 2016
- November 2016
- Oktober 2016
- September 2016
- August 2016
- Juli 2016
- Juni 2016
- Mai 2016
- April 2016
- März 2016
- Februar 2016
- Januar 2016
- Dezember 2015
- November 2015
- Oktober 2015
- September 2015
- August 2015
- Juli 2015
- Juni 2015
- Mai 2015
- April 2015
- März 2015
- Februar 2015
- Januar 2015
- Dezember 2014
- November 2014
- Oktober 2014
- September 2014
- August 2014
- Juli 2014
- Juni 2014
- Mai 2014
- April 2014
- März 2014
- Februar 2014
- Januar 2014
- Dezember 2013
- November 2013
- Oktober 2013
- September 2013
- August 2013
- Juli 2013
- Juni 2013
- Mai 2013
- April 2013
- März 2013
- Februar 2013
- Januar 2013
- Dezember 2012
- November 2012
- Oktober 2012
- September 2012
- August 2012
- Juli 2012
- Juni 2012
- Mai 2012
- April 2012
- März 2012
- Februar 2012
- Januar 2012
- Dezember 2011
- November 2011
- Oktober 2011
- September 2011
- August 2011
- Juli 2011
- Juni 2011
- Mai 2011
- April 2011
- März 2011
- Februar 2011
- Januar 2011
- Dezember 2010
- November 2010
- Oktober 2010
- September 2010
- August 2010
- Juli 2010
- Juni 2010
- Mai 2010
- April 2010
- März 2010
- Februar 2010
- Januar 2010
- Dezember 2009
- November 2009
- Oktober 2009
- September 2009
- August 2009
- Juli 2009
- Juni 2009
- Mai 2009
- April 2009
- März 2009
- Februar 2009
- Januar 2009
- Dezember 2008
- November 2008
- Oktober 2008
- September 2008
- August 2008
- Juli 2008
- Juni 2008
- Mai 2008
- April 2008
- März 2008
- Februar 2008
- Januar 2008
- Dezember 2007
- November 2007
- Oktober 2007
- September 2007
- August 2007
- Juli 2007
- Juni 2007
- Mai 2007
- April 2007
- März 2007
- Februar 2007
- Januar 2007
- Dezember 2006
- November 2006
- Oktober 2006
- September 2006
- August 2006
- Juli 2006
- Juni 2006
- Mai 2006
- April 2006
- Dezember 2005
- November 2005
- Juli 2005
- April 2005
- Juli 2004
- November 2003
- Oktober 2001
- Juni 2001
- Mai 2001
- April 2001
- April 2000
- Juli 1999
- Oktober 1998
- Dezember 1997
- Februar 1997
- September 1996
- Juni 1996
- Mai 1996
- April 1996
- November 1995